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Damals am 20.11.1957: SC Wismut Karl-Marx-Stadt gegen Ajax Amsterdam 1:3 (0:2)

Es war, als wenn einer seine Brille sucht, die er auf der Nase hat Wismut beim 1:3 (0:2) in Aue unter Wert geschlagen / Elf Spieler, keine Mannschaft S. Wolf, M. Kaiser kein Läufergespann / Bei den Gästen nur van der Kuil und Graafland


Der SC Wismut Karl-Marx-Stadt steht im Europa-Pokal nach dem ersten Spiel des Achtelfinales gegen Ajax Amsterdam an der gleichen Stelle, an der er nach dem ersten Spiel der Vorrunde gegen Gwardia Warschau gestanden hat: Er muß mindestens zwei Tore aufholen. Auch der Berichterstatter, der sämtliche Europa-Pokalspiele unseres Meisters miterlebte, muß zu der gleichen Schlußfolgerung wie damals kommen: Wismut hat unter seinem Wert gespielt und den Gegner einen unnötigen Vorsprung erreichen lassen.


Wiederholen sich die Ereignisse der Vorrunde? Damit die Erzgebirger in die Runde der letzten acht vorstoßen können, erhoffen wir dies als das Mindeste, wobei wir wünschen, daß dem SC Wismut die kräftemäßigen und nervlichen Strapazen der Auseinandersetzung mit dem polnischen Meister erspart bleiben.


Aber das wird an der Mannschaft selbst liegen. Was sie versäumt hat, muß sie ganz allein ausbügeln. In der Vorrunde ist es ihr gelungen. Im Achtelfinale sind die Aussichten nicht ungünstiger, obwohl das Rückspiel auf Gegners Platz ausgetragen wird. Dieser Nachteil wird aber dadurch aufgehoben, daß Ajax Amsterdam in der Spielstärke wesentlich geringer einzuschätzen ist als Gwardia Warschau.


Die Lage ist also noch nicht hoffnungslos. Allerdings kann dieser Optimismus die Enttäuschung über die verpaßte günstige Gelegenheit nicht verwischen. Was Wismut in Aue den 30 000 in- und außerhalb ihres schönen Stadions an erfolglosem Spiel vorgeführt hat, geht schon über den Ärger hinaus und ist nur noch mit Humor zu ertragen. In dieser Form ist selbst die so sicher scheinende Titelverteidigung noch in Gefahr. Wismut war am vergangenen Mittwoch von allen guten Fußballgeistern verlassen. Es war, als wenn einer seine Brille sucht und sie nicht findet, obwohl er sie auf der Nase hat.


Es gibt keinen Zweifel: Unsere Elf besitzt gegenüber Ajax, insgesamt gesehen, die besseren Spieler. Bei den Gästen überragten nur der stellungssichere Torhüter Graafland und der schnelle, balltechnisch versierte Halblinke van der Kuil. Aber was nützte es dem SC Wismut, die besseren Spieler in seinen Reihen zu haben, die sich redlich mühten, von denen jeder bestrebt war, das Beste zu geben, wenn die Aktionen in 90 Minuten nie zu einem Ganzen zusammenflossen, nicht einmal zu brauchbaren Teilstücken. So standen elf blaugekleidete, nicht unbegabte Fußballspieler auf dem aufgeweichten rasen, aber keine Mannschaft. Sie bestürmten 90 Prozent der Spielzeit das Ajax-Tor, drängten die Amsterdamer in die Abwehr, holten ein 16:1-Eckenverhältnis heraus und konnten doch nicht einmal den Schlußmann der Gäste auf eine wirklich ernste Probe stellen. Torchancen waren wohl in nicht geringem Maße vorhanden, aber keine wurde herausgespielt. Sie entstanden im Strafraumgedränge von Freund und Feind und wurden gerade deshalb, weil sie sich so überraschend auftaten, vergeben.


Wismut war nur ein Schatten gegenüber dem wahrscheinlich entscheidenden Meisterschaftsspiel mit Vorwärts fünf Tage vorher in Berlin. Und gerade dieser Vergleich untermauert die oft getroffene Feststellung, daß es unseren Mannschaften schwerfällt, zum Erfolg zu kommen, wenn sich der Gegner in der eigenen Hälfte festsetzt. Weshalb das so ist? In dem Moment, wo unserem Sturmspiel der freie Raum fehlt, zeigt es sich, wie wenig Spieler wir haben, die nicht nur den Ball in der Bewegung beherrschen, sondern zur gleichen Zeit die Fußballintelligenz besitzen, folgerichtig zu handeln. Unsere Spieler brauchen noch zuviel Zeit, um den Ball unter Kontrolle zu bringen und um den Gedanken zu fassen, was mit dem Ball zu tun ist. Deshalb haben die gegnerischen Abwehrspieler immer wieder Gelegenheit, dazwischenzufahren. Es genügt meiner Ansicht nach nicht nur, die technischen Elemente zu beherrschen, das kann man durch ständiges Üben erlernen. Es kommt auf das blitzschnelle Erfassen der Situation und das sofortige Umsetzen der Erkenntnis in die Tat an. Das allerdings läßt sich kaum erlernen. Dazu benötigt man Erfahrung, dazu braucht man geistige Beweglichkeit, und es hängt im Grundsätzlichen von der Allgemeinbildung ab.


Wenn man nun den Schlüssel sucht, weshalb die Wismut-Spieler diesmal zu keiner Mannschaft zusammenliefen, dann glaube ich ihn in den fehlbesetzten Außenläuferpositionen zu finden. Gerade deshalb, weil dort mit Siegfried Wolf und Manfred Kaiser die Spielintelligentesten der Wismut-Elf standen. Von ihnen hätte die Bindung ausgehen müssen. Statt dessen hob einer die Wirkung des anderen auf. Siegfried Wolf wurde immer wieder im Gefühl der Sicherheit seines Dribblings nach vorn getrieben, zumal sein direkter Gegenspieler aus der eigenen Hälfte nicht herauskam, aber wohl auch, um seiner, einer Spielerpersönlichkeit entbehrenden, von der Ajax-Abwehr gefesselten Fünferreihe das vorzumachen, was sie diesmal nicht konnten: Tore schießen. Das jedoch war, wie es sich am Schluß herausstellte, vergebliche Liebesmühe.


Es wäre besser gewesen, den Sturm zu führen, ihm die Gassen zu öffnen, die zu öffnen den Stürmern die Qualitäten fehlten. Dieses bedingungslose Stürmen seiner Läuferkollegen zwang Manfred Kaiser in eine Rolle, mit der er nicht zurechtkam. Er wußte nie genau, soll ich nun auch noch mit nach vorn gehen, oder hinten bleiben. Wer Manfred Kaiser kennt, weiß, daß Deckungsarbeit seiner Mentalität sowieso nicht liegt. So lagen die Fähigkeiten des Nationalspielers brach, und die Verteidigungsreihe war zumeist auf sich allein angewiesen. Der gefährliche van der Kuil hatte genügend Bewegungsfreiheit – es bleibt unverständlich, weshalb man diesen Mann nicht konsequent deckte, obwohl doch die Wismut-Trainer um die Gefährlichkeit des holländischen National-Rechtaußen wußten -, und er bedankte sich dafür mit zwei bildschönen Treffern, die für den Sieg, an den keiner im Ajax-Lager geglaubt hatte, den Ausschlag gaben.


Den Fußballfreunden unserer Republik bleibt nur noch die Hoffnung, daß diese zwei Tore nicht den Ausschlag über die weitere Teilnahme beim Europa-Pokal-Wettbewerb geben. Am Mittwochabend – das Rückspiel im Amsterdamer Olympia-Stadion wird unter Flutlicht ausgetragen und um 20 Uhr angestoßen – werden wir es genau wissen, wenn nicht doch noch ein drittes Spiel notwendig wird. Aber auch das würde uns trösten.



SC Wismut (blau): Thiele; Müller, Meyer, Bauer; M. Kaiser, S. Wolf; Wagner, Zink, Viertel, Mohr, S. Kaiser
Trainer: Gödicke


Ajax (weiß-rot): Graafland; van Mourik, Ouderland; van Ham, Anderiesen, Feldmann; den Edel, Swart, Bleyenberg, van der Kuil, Schmidt

Trainer: Hummenberger

Schiedsrichter: Grill (Österreich)

Zuschauer: 30 000 (Otto-Grotewohl-Stadion, Aue)

Torfolge: 0:1 van der Kuil (5.), 0:2 Bleyenberg (17.), 0:3 van der Kuil (62.), 1:3 Müller (87.)