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Das Zauberwort in Aue hieß „Wismut“ von Wolf Hempel

Eine Stadt zeigt ihr sportliches Antlitz

Aus dem Buch "Das Jahr des Sports 1974" von Wolf Hempel

Einer langen Raupe gleich windet sich der Zug durch das Zwönitztal. Dichtauf folgen die sauberen Strumpfwirkerdörfer und Städte, die auch Heimat des Maschinenbaus und der Elektroindustrie sind, Meinersdorf, Thalheim, Zwönitz… In zwei Schleifen rollt der Zug entlang der Lößnitz. Zu beiden Seiten mit Birkengebüsch bewachsene Halden, Schachtanlagen, Bauplätze, neue Wohnviertel… Bremsen kreischen. Der Zug hält in Aue, auf einem kleinen Bahnhof, der den Verkehr einer Großstadt bewältigt.

Der einst klösterliche Marktflecken in der Aue, dem Barbarossa, der Staufenkaiser Friedrich I., 1173 den Geburtsschein ausschrieb und der 1626 das Stadtrecht erhielt, musste im Verlaufe seiner 800jährigen Geschichte bis in die jüngste Vergangenheit warten, ehe er vom Reichtum des Erzbergbaus etwas abbekam. Von der Mitte des 15. Jahrhunderts an schürften Bauern in der Umgebung des von Zwickauer Mulde und Schwarzwasser aus dem Granitmassiv gewaschenen Talkessels Silber, Zinn und später Eisenerz, bis im Jahre 1698 dem „reichen Schnorr2“, einem Berg- und Hammerherrn, am Heidelsberg jenes merkwürdige „weiße Zeugs“ in die Hände fiel: Kaolin. Für viel Taler je Zentner verkaufte dieser das wertlos scheinende Pulver als Perückenpuder, bis der berühmte „Gold-macher“ Böttger in seiner Alchimistenküche die Auer Weißerde in Porzellan umwandelte und über anderthalb Jahrhunderte die Meißener Porzellanmanufaktur das Kaolin nur aus Aue bezog.

Metall-, Besteckwerke und Maschinenindustrie zogen die Arbeiter im 19. Jahrhundert aus den verkümmerten Städten des Bergbaus an, der um 1880 um Aue schließlich völlig zum Erliegen kam. So sehr sich die Industrie jedoch entwickelte, die Arbeitslöhne der Gebirgler blieben mit die niedrigsten in Europa.

Als die Nacht des Faschismus gewichen war und die ohnehin nie reich gewesene Erzgebirgler nach Kriegsende kaum mehr als ihre geschickten Hände besaßen, regte es sich in den verwaisten Bergbaurevieren. Mit der Roten Armee kamen sowjetische Wissenschaftler, Geologen und Ingenieure ins Gebirge. Zelte und Baracken wuchsen aus der Erde. Baumaterialien und Lebensmittel rollten in Güterzügen und auf Lastkraftwagen heran. Männer wühlten sich Maulwürfen gleich in die Berge hinein, schleppten Masse und Erz zutage. Sie krempelten von innen heraus das ganze Gebirge um. Das Zauberwort hieß „Wismut“. Es lockte 1946 Tausende „wie zu einer Wallfahrt“ herbei, führte sie vom Grauen des Krieges ins Leben zurück. Deutsche und sowjetische Bergleute begannen, in die alten Schächte und Stollen einzufahren, Erz für den Frieden zu gewinnen. Die Einwohnerzahl stieg von 25000 auf über 35000. Um den grauen, rußgeschwärzten Stadtkern gruppierten sich helle, moderne Stadtviertel, die sich über den Zeller Berg, den Brünlasberg und hinter dem Heidelsberg ausbreiten.

Eine kleine Schar junger Männer war es, die in diesen Monaten des schweren Beginnens 1946 den Sport zu neuem Leben erweckte. Siegfried Colditz, Johann Gentner, Gerhard Hirsch und Walter Prescura bildeten Gruppen der Antifa-Jugend für Turnen, Gymnastik und Akrobatik. Ihre engsten Verbündeten waren bewährte Arbeitssportler wie Heinrich Arnold, Willy Schmalfuß und Kurt Ungethüm sowie der Kulturoffizier der sowjetischen Stadtkommandantur, Oberleutnant Kostinsky. In den Schächten und Betrieben des Wismut-Bergbaus regten sowjetische Polit- und Bildungsoffiziere an, Sporttage für die Bergarbeiter zu veranstalten.

Es sind nicht die einzigen Kapitel deutsch-sowjetischer Freundschaft, die in den ersten Jahren der BSG Wismut geschrieben wurden. Anfang 1950 beschlossen der sowjetische Generaldirektor und die SED-Kreisleitung des Erzbergbaus gemeinsam, an der Stelle des vernachlässigten Auer Sportplatzes ein modernes Stadion zu bauen. Großartiges wurde binnen vier Monaten geleistet. Nach ihrer schweren Arbeit schufen Tausende Kumpel und Einwohner, Seite an Seite mit sowjetischen Soldaten, ein Drei-Millionen-Werk. Die Stadionweihe und Namensgebung, zu der auch der erste Ministerpräsident der DDR, Otto Grotewohl, erschien, gestaltete sich am 20. August 1950 zu einem wahren Volksfest.

Wichtige Namen und Daten in der Geschichte unseres Sports sind eng mit dem Stadion verbunden. Erstmals überquerte ein DDR-Hochspringer 1953 hier die 2-m-Höhe, Günter Lein (2,04 m). Im gleichen Jahr stieß Skobla (CSSR) mit 17,54 m in Aue neuen Europarekord. Zwei Leichtathletik-Länderkämpfe gegen Bulgarien und Rumänien wurden 1955 und 1957 überlegen gewonnen; bekannte DDR-Athleten wie Gerhard Hönicke und Manfred Naumann drehten in dem landschaftlich so reizvoll gelegenen Lößnitztal ihre ersten Trainingsrunden. Berühmt aber wurde dieses Stadion in Europa nicht zuletzt durch die Wismut-Fußballer. Mit dem Blick ins schmucke Klubhaus, auf die hinter spiegelblank geputztem Glas aufgebauten Pokale aus Metall und Kristall werden die Erfolge ihrer Glanzzeit offenbar. Prominente Klubs gaben in den Jahren 1957 bis 1960 zu den Europapokalspielen ihre Visitenkarten ab. Manchem Kontrahetne setzte die Wismut-Elf gehörig zu: Gwardia Warschau (3:1) und Ajax Amsterdam (1:3), Petrolul Ploiesti (4:2) und IFK Göteborg (4:0), Young Boys Bern (0:0) und Rapid Wien (2:0).

Siegfried Wolf ist einer der namhaftesten Spieler dieser Zeit. Er ist einer aus der Schar derer, die daran Anteil hatten, dass der Sport, der Fußball das Erzgebirge eroberte. In zehn Jahren stieg seine Mannschaft von der Kreisklasse zur Oberliga auf, erkämpfte dreimal die DDR-Meisterschaft und einmal den Pokal. Es war im April 1950, so weiß der „Sig“ Wolf zu berichten, da trafen sich 30 Fußballer aus dem Erzgebirge, aus Beierfeld, Bernsbach, Cainsdorf, Eibenstock, Grünhain, Aue und anderen Orten im „Goldenen Löwen“ zu Rabenstein.

Der sowjetische Generaldirektor der SDAG Wismut, Bogatow, hatte den Anstoß gegeben, die leistungsfähigen Spieler der Nachbargemeinden zusammenzuholen. Unermüdlich prüfte und experimentierte Trainer Walter Fritzsch, ehe 20 Spieler übrigblieben, die 1951 den Aufstieg in die höchste Spielklasse erkämpften, 1956, 1957 und 1959 den Titel errangen und die Wismut-Elf weit über Landesgrenzen hinaus bekannt machten. Viele von ihnen streiften zu dieser Zeit die Trikots der DDR-Auswahl über, darunter Manfred Kaiser und Willy Tröger, die Brüder Karl und Siegfried Wolf, Bringfried Müller und Dieter Erler.

Den Kampfgeist und die Moral dieser Männer bewahren die Nachfahren bis in die Gegenwart. Von den Kumpeln wird die Mannschaft zu Recht als ihre Elf betrachtet, weil die meisten unmittelbar aus ihrer Mitte gekommen und nach Abschluss ihrer sportlichen Laufbahn dem Erzbergbau treu geblieben sind. Einige Namen nur, die für viele sprechen: die Schweißer Heinz Glaser, Siegfried Wolf, Lothar Killermann, der Schlosser Klaus Thiele und der Ingenieur Conny Wagner. Nur fünf Minuten vom Otto-Grotewohl-Stadion entfernt, auf dem Zeller Berg, liegt die Heimstätte der Wismut-Handballer. Die Anhänger des kleinen Lederballs rückten immer mehr aus dem Schatten des großen Bruders Fußball. Nicht nur, dass ihre 340 Mitglieder die 300 Fußballer zahlenmäßig längst übertrumpft haben. Ihr Nachwuchs spricht seit Jahren im DDR-Handball ein bestimmendes Wort. 1970/71 wurde Wismut Aue in der Jugendliga Bronzemedaillengewinner, ein Jahr darauf Vizemeister und 1972/73 DDR-Meister. Mit diesem Titel schmückte sich die B-Jugend gleich dreimal. Niemand wird es daher überraschen, dass Handballer seit 1956 mit nur einer Unterbrechung den Platz in der Oberliga behaupten und dass aus Aue immer wieder großartige Könner in den Kreis der DDR-Nationalmannschaft aufrückten: Rainer Leonhardt, Harry Zörnack und Siegfried Voigt.

Das Geheimnis der Auer Erfolge ist in Wirklichkeit keines: Zu sechs Oberschulen der Stadt unterhalten die Handballer enge Patenschaftsverträge, und die werden eingehalten. Dafür sorgen die früheren Handballspieler selbst, die in den Schulen als Sportlehrer tätig sind, nicht zuletzt Erich Renatus als Direktor der Heidelsberger-Oberschule.

Die im Landesmaßstab erfolgreichste Auer Sektion aber ist die der Freistilringkämpfer. Siebenmal erkämpften ihre Mitglieder 1961 und 1973 die DDR-Mannschaftsmeisterschaft der Oberliga. Und der Mann, der 1952 mit einer Handvoll begeisterter junger Kumpel in Aue ein Neuland erfolgreich erschloss und bis heute das Oberliga- und zwei Nachwuchskollektive betreut, heißt Herbert Wende. Die Freistilringkämpfer trainierten anfangs im Klubhaus „1.Mai“ noch auf Kokosmatten, oftmals im gleichen Saal und zur gleichen Zeit, in der ein Jugendtanzorchester probte.

Muskelbepackte Männer rücken auf dem neugestalteten, historischen Altmarkt ins Bild. Auf Schautafeln werben Schwerathleten für ihren Sport. Wie die Handballer betreuen auch alle aktiven Senioren-Ringer die Jugend als Übungsleiter. Viele Stützpunkte im Kreisgebiet schufen sie sich als Quellen ihres Nachwuchsreservoirs, in Bockau und Schneeberg, in Bernsbach und Hundshübel sowie später in den Auer Stadtvierteln. Die mehrfachen DDR-Meister Horst Czech, Siegfried Epperlein, Egon Voigt, Lienhardt Patzak – immerhin erkämpften neun Ringer 14 Einzeltitel – sind mit ihren zahlreichen Berufungen in die Nationalmannschaft Vorbilder für die tüchtigen Jungen, die bei den Kinder- und Jugendspartakiaden in Berlin bislang fünfmal Gold und viele DDR-Meistertitel errangen. Der Kinder- und Jugendsport ist in guten Händen – nicht nur auf den Ringermatten.

Aues Ringer gehörten zu denen, die 1958/59 die ersten sozialistischen Arbeitskollektive bildeten. Arbeit und Sport betrachteten die Wismut-Kumpel von Anfang an als ein Ganzes. Sie warteten auch zu keiner Zeit, dass man ihnen die Sportmöglichkeiten in den Schoß legte. Das Signal setzten die Handballer mit ihrem Motto: „Erst muss die Halle stehen, dann folgt das Training!“ Werte in Höhe von 150 000 Mark schufen sie in Eigenleistungen beim Erweiterungsbau der Turnhalle auf dem Zeller Berg. Die Fußballer beteiligten sich für 102000 Mark am Bau einer Trainingshalle im Stadion. Die Bogenschützen, so erzählt der BSG-Vorsitzende Klaus Schreer stolz über seine Sportler, gestalteten sich allein eine Anlage für 100 000 Mark im Kulturhaus Schlema. Und die Kegler sind glücklich über ihre repräsentative Anlage Parkschlößchen. „Mach mit – schöner unsere Städte und Gemeinden“ ist kein Zauberwort – in diesem Sinne packen die Werkangehörigen und Sportler selbst zu.

Erfolgreiche Auer Sportler trugen den Namen der Stadt ins Land. Siegfried Huster, der Friedensfahrtteilnehmer und Bergspezialist, zählt zu ihnen und Hennelore Anke, die Jugend-Europameisterin über 200 m Brust, die im nur 12,5x6 m großen Auer Schulschwimmbecken das Abc des Schwimmsports erlernte, ehe sie den Weg zahlreicher Talente zum SC-Karl-Marx-Stadt ging.

Tausende sind in den elf Auer Gemeinschaften sportlich aktiv; 12 von 100 Einwohnern waren 1973 Mitglieder des DTSB, die Mehrzahl bei Wismut. Nicht registrierte sind Tausende im Freizeit- und Erholungssport -, auch sie sorgen für manche Schlagzeile in den Zeitungen. „Die Genossen der SED-Gebietsleitung sorgen sich ständig um den Sport. Alfred Rohde, unser 1.Sekretär, kümmerte sich persönlich darum“, sagt Werner Lorenz, der Verantwortliche für Sport in der Generaldirektion SDAG Wismut. Der stellvertretende Wismut-Generaldirektor Günter Palme rief 1973 alle Wirtschaftsleiter auf, sich zugleich als Leiter des Sports zu fühlen. „Nichts wird dem Zufall überlassen!“ ergänzt Werner Vogel, der Sportpädagoge des Bergbaubetriebes Aue. „Vor 15 Jahren bin ich noch von Schacht zu Schacht gewandert, habe mit den Kumpeln jeweils zehn Minuten Gymnastik durchgeführt, heute machen das viele Abteilungen über Tage selbst.“

In einer Ecke steht das Ehrenbanner. Es braucht nicht vom Staub befreit zu werden. Der Wettbewerbssieger im Freizeit- und Erholungssport ruht nicht aus. Das gemeinsame Sportprogramm von DTSB und FDGB ist kein Heft, das in Aue ab und an mal einer aufschlägt und zitiert. Arbeit und Sport diktieren das Handeln vieler – zum Wohle aller.

Das nur jährlich einmal ausgerichtete Sportfest ist längst Vergangenheit. In jedem Grubenbereich arbeitet heute eine Volkssportkommission, ein „Komitee für Körperfraktur und aktive Erholung“. In 98 Prozent der Brigaden half dabei; in ihm ist der Sport seit den 50er Jahren einer der abzurechnenden Hauptpunkte.

Franz Patzak, der Sportorganisator der BGL in dem Grubenbereich Förderung, braucht heute keiner Brigade hinterherzulaufen. Deren Sportorganisatoren erscheinen selbst, „Komm, horch drauf, ich brauche“, heißt es oftmals, „eine Stoppuhr, zwei Kampfrichter“. Franz Patzak gerät dabei selten in Verlegenheit, denn er weiß eine starke BSG hinter sich. „Bei uns gehören BSG und Betrieb zusammen“, meint Klaus Schreer ohne Pathos. Es klingt wie selbstverständlich.

Ohne dieses Miteinander hätten die Kumpel das Ehrenbanner nie erkämpft. Den schönsten Lohn aber nennt Franz Patzak, der selbst 15 Jahre lang als Hauer unter Tage arbeitete: „Wenn ich keinen Sport treiben würde, ging´s bei mir rückwärts. Das hat ein Großteil der Hauer erkannt. Sie merken, dass es mit dem Sport besser geht, die Arbeit leichter wird, dass sie mehr Freude haben.“ 112 Mannschaften kämpfen so um Betriebsmeisterschaften und Pokale im Fuß-, Hand- und Volleyball, im Tischtennis und Kegeln. Sechs von zehn Wismutangehörigen trieben 1973 regelmäßig Sport; 87 Prozent der Brigaden beteiligten sich an volkstümerlichen Wettbewerben wie „Mach mit – bleib fit“. 217 Brigadesportfeste mit Familienangehörigen und Patenschulen gab es in einem Jahr. Jeder vierte Wismutangehörige trägt das Sportabzeichen der DDR.

Hand in Hand über das ganze Jahr, so fasst BSG-Vorsitzender Klaus Schreer die Zusammenarbeit der Auer Sportgemeinschaften mit der Nationalen Front, den Räten des Kreises und der Stadt zusammen. Beim Fest des Bergarbeiters, beim Frauensportfest, zu dem Männer ausnahmsweise keinen Zutritt haben, bei den Wohngebietssportfesten und dem Betriebsfestspielen zum Abschluss der 800-Jahr-Feierlichkeiten – überall halfen die Wismut-Sportler, führten Wettkämpfe durch, stellten Kampfrichter und Sportgeräte oder bauten wie am Filzteich einen ganzen Sportgarten auf. Während der Auer Festwoche gab es täglich Sport. Tatsächlich wurde vieles bereits erreicht, doch schon setzen sich die Verantwortlichen bis 1975 ein neues Ziel: 80 von 100 Wismut-Beschäftigten sollen regelmäßig Sport treiben.

Aues Antlitz veränderte sich in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr als Jahrhunderten zuvor. Dort, wo sich die Gebirgler von Berg- und Ackerbau, Waldarbeit und Spitzenklöppelei in der Vergangenheit mehr schlecht als recht ernährten und das Magenknurren allgemein war, lernten die Menschen neue Werte erfassen. Zu ihnen gehört der Sport. Als Aue 1964 und 1968 als Etappenziel die Friedensfahrer beherbergte und jeweils als bester Etappenort ausgezeichnet wurde, fühlten die Radsportler: Hier ist eine Heimstatt des sozialistischen Sports herangewachsen.