Klaus Thiele: „WISMUT WAR DAMALS FÜR UNS EINE ECHTE FAMILIE”
Stolze 258 Pflichtspiele bestritt Klaus Thiele für seine Wismut- Mannschaft, bei vier A-Länderspielen stand der 1934 in Aue geborene Torwart für die DDR zwischen den Pfosten. Trotzdem verließ der Sportler nach Ende seiner Laufbahn den Verein, wurde Bergmann. Heute lebt er mit seiner Frau Erika auf dem Zeller Berg. Den „modernen Veilchen” drücken beide in der 2. Bundesliga die Daumen, der Weg rüber ins Stadion aber fällt ihnen schwer. Die Gelenke. Doch als Anfang Oktober ein Filmteam von Ajax Amsterdam dort dreht, nimmt Klaus die Mühe gern auf sich.
Amsterdam, das war eine der Europapokalstationen des SC Wismut in der Saison 1957. Der Keeper erinnert sich lebendig an die beiden Begegnungen damals. Obgleich die Ostdeutschen im November 1:3 in Aue und 0:1 in den Niederlanden
verloren, bleiben die Duelle Höhepunkte, unvergessen. Bewegt hält der 83-Jährige Bilder und einen Gruß seines Ajax-Kontrahenten Pieters Graafland in Händen, die ihm die Oranjes mitbringen. „Nach den Spielen saßen Ajax- und Wismut-Spieler damals zusammen. Drüben zeigte mir Pieters Amsterdam, die Grachten und die Fenster, hinter denen die Frauen sitzen”, sagt Klaus. Pieters und er sind ein Jahrgang, am 25. Februar 1934 ist Thiele geboren, wenige Tage älter ist der Holländer.
Klaus wächst an der Bergfreiheit auf, unterm Eichert. Vater Karl hütet das Fußballtor, näht seinem Jungen den ersten Fußball aus Stoff- und Lederflicken selber. Mit der Mutter läuft der „Gung” rauf nach Lauter, um Papa beim Spiel zuzugucken. Damals, im Krieg oder kurz danach, ist auch Klaus schon am Ball. Mit den Nachbarskindern bolzt er auf der Straße. Dann wohl beim SV Aue, so genau weiß er es nicht mehr.
Umso besser erinnert er sich an die Zeit danach, in der Zschorlauer Fußballjugend. „Wir gewannen 2:1 gegen Aue und da muss ich einem dort aufgefallen sein, jedenfalls durfte ich zur BSG Wismut wechseln und habe dann 18 Jahre lang dort gespielt. ’52 bis ’70. Eine wunderbare Zeit!”
Es dauert eine Weile, ehe er an Kurt Steinbach und Erhard Schmalfuß vorbei kommt. Am 19. September ’54 erhält der Neue den ersten Oberligaeinsatz beim 5:0-Heimsieg im Derby gegen Empor Lauter. Er setzt sich durch, doch unterbricht bald ein Mittelhandbruch seinen Weg. Monatelang Gips. Heimlich trainiert Klaus, steht bald wieder im Kasten. Zu früh? Bis Anfang 1957 laboriert Thiele, wird in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre aber die klare Nummer eins beim SC Wismut. Drei Meistertitel, Erster der Übergangsrunde, DDR-Pokalsieger. Im Europapokal geht es gegen Gwardia Warschau und Ajax, gegen Petrolul Ploiesti, IFK Göteborg, Young Boys Bern – insgesamt zwölf Einsätze für Klaus. Am 4. Mai 1958 dann sein A-Länderspieldebüt gegen Albanien, die DDR spielt 1:1 in Tirana. 1959 folgen Berufungen gegen Portugal, die Tschechoslowakei und Finnland, hinzu kommen Spiele für den B-Nationalkader. Testspiele in Westdeutschland und Österreich, in Guinea und Mali – wer in der DDR durfte das damals? Als Erika und Klaus am 3. September 1955 heiraten, fährt mittags nach dem Hochzeitsmahl ein Auto vor. Es bringt ihn zur Vorbereitung der Nationalauswahl nach Berlin: „Das war die Bedingung, sonst hätte ich an dem Tag nicht heiraten dürfen – oder nicht mehr international spielen.”
Anfang der Sechzigerjahre muss sich Thiele bei Wismut gegen Lothar Neupert und Manfred Hambeck behaupten, 1965 ist er wieder unangefochten. Doch setzt sich bald Manfred Fuchs durch, später auch der junge „Uli” Ebert. Am 8. November 1969 bestreitet er in Aue sein letztes Punktspiel gegen den FC Karl-Marx-Stadt (2:1). Unterm Strich stehen 219 Oberligapartien, 39 im Europa- und FDGB-Pokal plus mehrere Freundschaftsspiele. Im September 1970 wird der 36-Jährige verabschiedet, trainiert noch ein Jahr ab. Doch was ihm zuvor versprochen wurde, eine Arbeit im Verein, daran erinnert sich plötzlich keiner mehr bei der BSG. „Da war ich stur, habe mir selber eine Arbeit bei der Wismut gesucht. Als Spieler hatten wir in den Jahren zuvor schon dort gearbeitet, wenn auch nur halbtags. Es war eine harte Zeit, so vieles musste ich neu lernen. Aber die Kumpel haben mir immer geholfen, genauso wie meine Frau und die Kinder”, blickt er zurück. Der gelernte Maschinenschlosser arbeitet untertage, erst im Schacht 366 bei „Liwum”. Heißt: „Liquidierung und Wiederurbarmachung alter Schächte”. Dann in Pöhla, wo er mithilft, die Zinnkammern aufzufahren. Nebenher bleibt Klaus bei Traktor Alberoda (als Feldspieler! und Trainer) am Ball. Zuletzt machen ihm die Gelenke zu schaffen, er wechselt aus der Grube in die Wismutkantine, schult mit Mitte fünfzig zum Koch um. Nach der Wende nimmt er das Angebot an, in Vorruhestand zu gehen.
„Ich hab’ alles richtig gemacht”, sagt der 83-Jährige heute. „Habe nach dem Fußball nicht gegrübelt, sondern das Beste draus gemacht. Aber auf Wismut Aue war ich sauer, es war kein schöner Abgang. Trotzdem, den Mannschaften habe ich immer die Daumen gedrückt. Bis heute hänge ich mit dem Herzen am Verein.” Mit Jürgen Escher, Dietmar Pohl, Ernst Einsiedel, Gottfried Eberlein und Karl Groß ist er bis jetzt befreundet geblieben. Von der 1952-er Mannschaft aber sind nur mehr zwei Fußballer übrig; außer Thiele noch Kurt Viertel.
Was bleibt ist die wunderschöne Zeit: „Nach den Spielen ging niemand gleich heim, mit unseren Frauen und Kindern wurde gemeinsam Abendbrot gegessen. Im Kollektiv. Montags nach dem Training haben wir Skat gekloppt und wehe einer hat sich gedrückt. Sommerurlaub in Zinnowitz, im Winter Trainingslager im ,Aktivist’ am Fichtelberg – und immer waren die Familien mit. Es ist nicht übertrieben, die BSG Wismut war eine echte Familie.” Ob sie überwacht wurden im westlichen Ausland? „Bestimmt, aber wir haben es nicht gemerkt. Als ich ’57 mit Pieters durch Amsterdam fuhr, dachte ich kein bisschen an so was.” Als Auswahlspieler war Klaus in der Partei und 25 Jahre lang VP-Helfer, obwohl sein Vater lange vorm Mauerbau nach Frankfurt am Main gegangen war. „Kein Kontakt” schrieb Thiele jedes Mal in die DDR-Formulare, obwohl er Kontakt hatte und ihn einmal sogar – Wismut spielte in Wiesbaden – drüben traf.
Die Rentnerzeit haben Thieles dann genossen. „Ich hatte als Fußballer viel von der Welt gesehen, aber wenig Zeit für die Familie gehabt. Darum bin ich nach der Wende mit Erika viel gereist, jedes Jahr gönnten wir uns eine Kur”, sagt der Wismutkumpel. Jetzt, da sie schlecht zu Fuß sind, fühlen sie sich daheim auf dem Zeller Berg wohl, wo beide seit gut sechzig Jahren wohnen. Fein, wenn die Töchter Petra, Annett und Silke mit ihren Familien vorbeischauen; die Enkel Rico, Nicole, Claudia, Isabell und Cedric. Letzterer spielt selbst Fußball, hat beim FCE, bei Karl Groß, das ABC gelernt und ist jetzt bei Viktoria Lauter aktiv. Und kennt natürlich all die Geschichten über Wismut, Ajax, Young Boys & Co. (OS)
Text: Olaf Seifert
Fotos: Ronny Graßer (2), Archiv FCE